Talk Talk ‎"Such A Shame"

“Er war einer der großartigsten Innovatoren der Musik”, twittert Simon Le Bon von Duran Duran am 26. Februar 2019. Und Gary Kemp von Spandau Ballet schreibt am selben Tag: “Sein Einfluss auf die Musik war immens und sehr weitreichend.”. Kurz zuvor hatte die Musikwelt die Nachricht vom Tod von Mark Hollis erreicht. Der Mann mit den auffällig abstehenden Ohren war ein Genie, dem Hits und Ruhm nicht wichtig, vielleicht sogar eher unangenehm waren. Mark Hollis wurde 64 Jahre alt. 

Der junge Mark Hollis will eigentlich Kinderpsychologe werden. Doch dann entdeckt er durch seinen älteren Bruder, der DJ war, die Musik – und er kommt nie wieder von ihr los. Mit 20 geht er nach London, der Punk regiert die britische Hauptstadt und Mark wird Teil der Band The Reaction – ihre erste und einzige Single heißt “Talk Talk Talk Talk”.  

Die Band hat nur eine kurze Lebensdauer, doch der zweieinhalb-Minüter wird der Wegweiser für Marks nächste Gruppe – schon weil der Songtitel als Inspiration für den späteren Bandnamen dient. 1981 lädt Mark Hollis ein paar befreundete Musiker ein, um ein paar Demos einzuspielen. Die entscheiden sich für einige Auftritte und werden dabei von einem BBC-Radiomoderator entdeckt, der ihre Musik im Radio spielt. Es dauert nicht lange, da finden Talk Talk eine Plattenfirma. Denn die hatte kurz zuvor Erfolg mit Duran Duran. Jetzt suchten sie nach einer Formation mit ähnlichem Profil. Da passten Mark Hollis und seine Gefährten mit ihrem romantischen Gestus perfekt. Ihr Debütalbum "The Party’s Over" erscheint 1982. Der scheue und zugleich coole Mark Hollis eignet sich perfekt als New Wave-Star. 

1983 beschäftigt sich Mark Hollis dann mit einem Buch des Autors Luke Rhinehart. Der Titel: “The Dice Man” - Der Würfler. Der Ich-Erzähler ist ein gelangweilter Psychiater, der einen neuen Kick in seinem Leben sucht. Er beschließt, alle Entscheidung in seinem Leben nur noch durch würfeln zu fällen. Im Privaten und auch im Beruflichen – von den Behandlungsmethoden seiner Patientinnen bis zu Dingen, die seine Familie betreffen: Die Würfel haben die Macht. Klar, dass das in die absolute Anarchie führt. Der geniale Mark Hollis schafft es, die Idee des 500seitigen dicken Schinkens auf einen drei Minuten und 59 Sekunden langen Song zu verdichten. 

"The dice decide my fate, that's a shame in these trembling hands my faith…" – Die Würfel entscheiden mein Schicksal, das ist eine Schande, mein Schicksal in diesen zitternden Händen. Ich habe das Buch nicht gelesen, aber es scheint mir eine äußerst gelungene Zusammenfassung der Idee des Romans - Respekt, wirklich große Textkunst. Den Song über den Würfel nennt Mark Hollis "Such a Shame" – und er wird ein Hit. Genauso wie das dazugehörige Album und die gleichnamige Single "It´s my Life". Talk Talk und vor allem Mark Hollis werden Stars.  

Es ist schwer zu sagen, ob dieser Erfolg für Mark Hollis sowas wie ein “Betriebsunfall” ist. Mag sein, dass er sich nicht aufgemalt hat, wie es ist, als Popstar im Rampenlicht zu stehen: kreischende Teenager, Fotoshootings, ausverkaufte Konzerte, Videos, die bei MTV hoch und runter laufen… Für vermutliche fast alle Musiker ist das der große Traum – aber Mark Hollis kann damit nichts anfangen. Er zieht die Reißleine… und zwar, in dem er sich für das nächste Album etwas sehr Ungewöhnliches überlegt. 

1987. Eine Kirche im britischen Suffolk. Hier finden schon lange keine Gottesdienste mehr statt. Deshalb kann Mark Hollis das ehemals heilige Haus mieten. Er lädt Musikerinnen und Musiker aus Klassik und Jazz zu einer Recording Session – mit dabei sind der Trompeter und Pianist Henry Lowther, Violinist Nigel Kennedy oder auch ein kompletter Kirchenchor. Sie verpassten die erste Deadline des Labels, die zweite auch. Das Budget überziehen sie um ein Vielfaches. Die Aufnahmen dauern insgesamt 14 Monate. Dann endlich erscheint "Spirit of Eden". 

Die Werke auf dem Album: Episch, verschachtelt und teils bis zu neun Minuten lang. Die Platte ist wie ein großer Mittelfinger Richtung Mainstream. Als wollte Mark Hollis sagen: "Scheiß doch auf die Charts, ich bin Künstler und mache was ich will". 

Mark Hollis muss von Anfang an gewusst haben: Dieses Album wird kein Chart-Erfolg – und genauso kommt es dann auch. Der Musikexpress schreibt sehr treffend: “Es ist ein künstlerischer Triumpf. Es wird eine kommerzielle Katastrophe.”  

Und dann dauert es nicht mehr lange bis geschieht, was in solchen Momenten geschehen muss: Die Band überwirft sich mit der Plattenfirma und die Bandmitglieder zerstreiten sich.  1991 ist Schluss mit Talk Talk. 

Mark Hollis. Ein Eigenbrötler, ein Vollblutmusiker – und ein Intellektueller. Der Mann wirkt auf mich nicht wie einer, der in seinem Leben keine Würfel gebraucht hat. Jede Veränderung in seiner Karriere scheint sehr durchdacht. Von den punkigen Anfängen über den Mainstream und den kalkulierten Misserfolg. Da ist es nur folgerichtig, dass sich Mark Ende der 90er fast vollständig aus der Öffentlichkeit zurückzieht. Noch einmal gibt es dann eine Parallele zwischen Mark Hollis' Leben und seinem Song "Such a Shame". Denn da heißt es im Lied:  

"A life on every face, and that's a change, 'til I'm finally left with an eight" – Ein Leben auf jeder Würfelseite, eine Veränderung, bis ich eine Acht würfele. Die Acht gilt als Todeszahl. Am 25. Februar 2019 würfelt das Leben für Mark eine Acht. Er stirbt an den Folgen einer Krebserkrankung.  

Jahr: 1984
Länge: 3:59
Label: EMI
Album: It’s My Life